11.5.20- -
Sie hasste Hochzeiten. Allgemein, aber besonders die heutige. Die ihrer kleinen Schwester. Ihrer jüngeren, besseren, erfolgreicheren und selbstverständlich hübscheren kleinen Schwester. Aber man macht eben gute Miene zum bösen Spiel, was blieb ihr auch anderes übrig. Gott, wie sie diese Heuchlerei, dieses gutbürgerliche Trauerspiel verabscheute.
„Evi, schön dich zu sehen.“
Küsschen.
Und noch mehr verabscheute sie Küsschen. Und Evi genannt zu werden. Und am allermeisten den selbstgefälligen, hyperglücklichen Blick ihrer Schwester. Ja, lach nur, jetzt ertrag ich es noch, aber selbst meine Geduld, die Geduld eines Engels, der ich, wie du nicht müde wirst, mir zu versichern, ohne Zweifel bin, hat irgendwann ein Ende.
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In der Torte sollte Gift sein. Oder Sprengstoff. Oder beides – aber würde das eine nicht das andere unschädlich machen? So etwas könnte nicht riskiert werden, nein, zu viel Stress. Bitte keinen Stress, davon hatte sie in letzter Zeit genug gehabt. Vor allem nach dem Tod ihres Vaters. Ja, dessen Liebkind war sie gewesen, aber die Mutter, die kannte nur eine Art der Gerechtigkeit, und zwar jene, die ihrer jüngeren, besseren, erfolgreicheren und selbstverständlich hübscheren kleinen Schwester zu Gute kam. Beim Gedanken an die letzten zehn Jahre im Schatten dieses Miststücks ging ihr Atem unwillkürlich schneller. Nervös kratzte sie an der Wachstischdecke, der Nagellack splitterte auf den Tisch.
„Kind, lass’ das und benimm’ dich. Du willst doch deiner Schwester den schönsten Tag…“
Natürlich nicht. Natürlich doch. Sie stand auf, entschuldigte sich formgemäß und mit dem erwarteten unsicheren Lächeln und stolperte auf die Toilette. Und jetzt schnell, wie im Film. Nein, besser, wie im Nobelpreis gekrönten Roman. Bei dem Gedanken musste sie unwillkürlich grinsen. Sie öffnete ihre Handtasche und brachte eine Packung Schmerztabletten zum Vorschein. Man gönnt sich ja sonst nichts. Aber heute, zur Feier des Tages, darf’s ruhig ein bisschen mehr sein. Vorsichtig zerstampfte sie den gesamten Inhalt zu einem feinen weißen Pulver. Ein beachtlicher Berg, wenn das jetzt Kokain wäre und ich eine asyllose schwarzafrikanische Nutte. Aber ich bin ja nur die Schwester der jüngeren, besseren, erfolgreicheren und selbstverständlich hübscheren kleinen Schwester. Oder doch die Sanduhr, die deine, meine, unsere verbleibenden Körner abzählt? Zitternd und fasziniert zugleich ließ sie das Pulver durch ihre spitzen Finger rieseln. Also, zu dir oder zu mir?, wandte sie sich an das imaginäre Spiegelbild der Schwester. Und wurde gleich darauf von einem heftigen Lachanfall geschüttelt: Warum sollte sie für etwas büßen, was sie noch nicht verbrochen hatte?
Grinsend kehrte sie in den Saal zurück, nahm sich im Vorbeigehen zwei Sektgläser, präparierte eines davon dementsprechend, und stieß mit ihrer Schwester „auf den schönsten Tag deines etc. etc.“ an. Der Notarzt konnte nur mehr den Tod feststellen.
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In der Torte sollte Gift sein. Oder Sprengstoff. Oder beides – aber würde das eine nicht das andere unschädlich machen? Wie war das nur in diesem Film da gewesen… Man sollte mehr praktisches Wissen vermittelt bekommen. Darauf hatte man in der Schule, zu Hause und in der großen weiten echten Welt wohl zu wenig Wert gelegt.
Ihr Vater riss sie jäh aus ihren Gedanken:
„Eva, setz dich gerade hin. Du willst doch deiner Schwester den schönsten Tag…“
Natürlich nicht. Natürlich doch. Es war ohnehin schon zu spät. Die zehn Schlaftabletten, die sie vorhin geschluckt hatte, würden in weniger als einer halben Stunde ihre Wirkung zeigen. Dann stand endlich einmal sie im Mittelpunkt. Mitten im Punkt. Punktgenau in der Mitte.
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Was soll’s. Ich stehe auf, beglückwünsche sie, küsse sie. Und ihn. So wie vor einer Woche im Park. Bei dem Gedanken, wo seine Lippen, die gerade die Hand seiner frisch Angetrauten liebkosten, selbst gestern noch waren, errötete sie. Tja, ihre Schwester hatte es eben nie geschafft. Schließlich war sie, Eva, immer die bessere, erfolgreichere und selbstverständlich hübschere große Schwester gewesen. Das war bekannt. Aber die Behinderung der kleinen Schwester schlug halt selbst noch den Erfolg, die Schönheit und die Überlegenheit der großen. Nur aus Mitleid hatte er sie heiraten wollen, natürlich. Und weil er wohl schon geahnt hatte, dass man als halbseitig Querschnittsgelähmte eine kurze Lebensdauer, und als Daddys Darling ein großes Erbe zu erwarten hatte. Wie gerissen. Wie verlockend. Sie wusste, dass er ihrer Virilität, ihrer Lebenskraft und ihrer animalischen Ausstrahlung nicht widerstehen kann, konnte und nie können würde. Vielleicht war es falsch, aber wer konnte es ihr übel nehmen? Papa natürlich, und Mutter, aber doch nicht ihre Schwester. Während sie letzterer eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich und ihr einen zärtlichen Kuss auf die bleiche Stirn drückte, streifte sie scheinbar zufällig über seine Hand, die den Rollstuhl fest umklammerte. Er schwitzte. Er war nervös. Ein Umstand, den sie nur allzu verständlich finden konnte. Sie verschwand auf die Herrentoilette und wartete auf sein Kommen.
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Ich hasse Hochzeiten. Allgemein, aber besonders die letzte. Meine eigene. Wenn nur alles anders und später gekommen wäre. Zorn stieg in ihr hoch und sie blickte auf, in das Gesicht ihres Ehemannes. Bleich, leblos, apathisch. Wie sollte man so jemanden lieben, geschweige denn achten?
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Ich hasse Hochzeiten. Allgemein, aber besonders die letzte. Meine eigene. Wenn nur alles anders und später gekommen wäre. Angst stieg in ihr hoch und sie blickte auf, in das Gesicht ihres Ehemannes. Kalte Augen; starrer Blick, harte Gesichtszüge und ein cholerisches Zucken um die Mundwinkel. Wie sollte man so jemanden achten, geschweige denn lieben?
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Und nun machte ihre Schwester, ihre einzige, geliebte Schwester, ihr größter Schatz, beste Freundin und einziger Trost nach dem Tod der Eltern, den gleichen Fehler. Sie hatte sie gewarnt. Aber andererseits, was hätte sie tun sollen, was hätten sie beide tun sollen? Mittellos und mit einem Berg an Schulden, Spielschulden des Vaters, Schulden durch die Alkoholsucht der Mutter, gab es nur einen Ausweg: ein gut situierter Ehemann. Und am besten zwei, für jede einen. Freunde der Familie, natürlich, und in ihrem Fall sogar ein entfernter Cousin. Kein Problem. Dafür aber Geld. Endlich Geld. Und endlich eine richtige Wohnung, endlich eine funktionierende Heizung, endlich ein Mikrowellenherd. Endlich wieder Freunde, Küsschen, endlich wieder eine soziale Stellung. Schön. Also doch ein Grund zum Feiern? Also doch ein Grund zum Feiern. Also doch ein Grund zum Feiern!
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Eine schöne Hochzeit, eine großartige, atemberaubende Hochzeit. Eine wunderschöne Braut, ein stattlicher Bräutigam, eine gerührte Brautmutter, ein stolzer Brautvater. Eine schöne Hochzeit war es gewesen. Das nach Hause Gehen fiel schwer. Aber jetzt hatte sie sich endlich verabschiedet, lachend und scherzend, und war aus dem Saal gestolpert. Mit bebender Brust inhalierte sie nun gierig die frische, kühle Nachtluft. Sie fühlte sich eins mit der Natur, den zirpenden Grillen, den schattengleichen Fledermäusen, ja selbst mit den schwirrenden, fragilen Mücken, den Ratten, den feenhaften Nachtfaltern. Jetzt war der Zeitpunkt, alles hinter sich zu lassen. Dort ist die Brücke, darunter der Fluss. Der reißende Fluss.
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Der reißende Fluss, auf dem sie als Kinder immer Kanu gefahren waren. Aber seitdem Vater an den Rollstuhl gefesselt war, hatte sie darauf, wie auf viele andere geliebte Zeitvertreibe, verzichten müssen. Sie schob den Rollstuhl schneller und versuchte im Gehen den Vater besser zuzudecken. Es war zwar Mai, aber die Luft immer noch kühl. Eine Erkältung war schnell passiert, und dann würde es wieder an ihre hängen bleiben. Natürlich. Immer an ihr.
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Sie hasste Hochzeiten. Deshalb war sie wohl auch schon früher gegangen. Der Vater diente, wie so oft, als willkommener Vorwand, sie musste ihn doch zu Bett bringen. Und seine Medizin, ja, die hatte er auch noch nicht genommen. Aber jetzt ist Schluss mit der Medizin, Vaterchen, ab heute wirst du keine mehr brauchen. Und mich auch nicht mehr. Und ich dich, oder irgendjemand anderen, nicht mehr. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte, so abrupt, dass ihr fast der Rollstuhl entglitten wäre. Schneller, immer schneller rannte sie weiter. Bis sie an der Brücke angekommen war. Sie wusste genau, wo sie nach dem Messer zu suchen hatte, das sie gestern noch scheinbar unachtsam fallen gelassen hatte. Da war es ja.
„Evi, mir ist kalt.“
„Ich weiß, Vater.“
Und nenn mich nicht Evi, wollte sie noch hinzufügen, aber was brachte das schon.
Ohne zu überlegen stieß sie ihm das Messer von hinten durch die Kehle. Ein kurzer, unterdrückter Laut. Eine Fontäne an Blut. Ihr pastellblaues Kleid nun blutgetränkt, die Blume im Haar mit lustigen Spritzern verziert. Sie lachte kurz auf, ein schrilles, panisches Lachen. Jetzt werde ich auch noch geisteskrank, wie originell. Sie packte ihren Vater um die Hüfte, doch er war zu schwer. Der Mond kam hervor, tauchte die Szene in ein fahles Licht, die perfekte Szenerie. Wann schreit endlich jemand „Cut!“?, fragte sie sich. Sie packte noch einmal zu, diesmal fester. Die Angst verlieh wieder einmal ungeahnte Kräfte, und sie schaffte es, den Körper aus dem Rollstuhl zu hieven. Ihre Hände waren blutverschmiert, doch jetzt gab es kein zurück. Jetzt noch nicht. Das Messer glitt durch sein Gesicht wie über Butter, bohrte seine Augen heraus wie die Kerne aus den Marillen, schlitzte die Lippen auf wie eine Packung Milch. Alles um sie war rot, aber sie sah klar wie schon lange nicht mehr. Die Gliedmaßen können dran bleiben. Genug für heute. Genug für ihn.
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Und doch: Es war noch nicht genug. Der Körper ihres Vaters gehörte nun den Fluten, aber ihr eigener wartete noch auf sein Schicksal. Sich selbst zu richten ist schwieriger als angenommen, man hat doch plötzlich einen erstaunlichen Lebenswillen, dachte sie. Sie richtete die Augen auf die schwarze Brandung unter sich und umklammerte den Knauf des Messers. Die zarte Morgendämmerung ließ die Wellen unter ihr wie Öl erscheinen, so schwerfällig und bunt. In der Ferne bellte ein Hund, nein, heulte ein Wolf. Und, natürlich, ein Hahn schrie. Oder war das zuviel des Guten? Der Wind wurde stärker und drückte sie gegen das Geländer. Blut tropfte in die schwarze Flut unter ihr. Es war perfekt. Sie stieß zu und ließ sich über die Brüstung fallen.
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Ich bin doch ein Hamster ohne Rad, dachte sie. Oder besser: mit selbst erschaffenem Rad. Immer sich drehend, aber ohne Grund, weil es ja eigentlich kein Rad gibt. Aber sind die selbst erschaffenen Räder, die in den Luftschlössern, nicht die gefährlichsten weil schnellsten? Die nichts verzeihen, keine Unachtsamkeit, und unaufhaltsam größer und schneller werden? Bis sie alles um sich herum aufsaugen, Stück für Stück, bis keine Umgebung mehr vorhanden ist. Nein, zu sehen ist. Ich kann nicht sein ohne dieses Rad. Ohne dieses viel zu schnelle Rad, das doch um so vieles besser ist als gar kein Rad. Tagein, tagaus sitzen, warten, hoffen. Besser: schneller und schneller drehen, und irgendwann so schnell, dass das Rad aus der Halterung springt und den Hamster an neue Orte bringt, mit neuen Gefahren, mit Ecken und Kanten. Welch Befreiung das wäre. Aber kein Rad, keine Gefahr. Keine Befreiung.
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Sie hasste Hochzeiten. Allgemein, aber besonders die mit Hugh Grant. Gähnend erhob sie sich vom Sofa, streckte sich und ging zu Bett. Genug für heute. Genug für mich?
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