Tuesday, June 16, 2015

Live

Trigger Warning: This one is quite heavy on violence and explicit sex, inspired, at the time, by the British In-Yer-Face theatre of the 1990s and early 2000s. For an introduction, see Aleks Sierz's eponymous 2001 monograph. The following was an attempt to translate into prose what Sarah Kane, Mark Ravenhill and others so marvelously achieved in drama. 

Um halb vier Uhr morgens brannte sein Rachen von Alkohol gemischt mit Fruchtsaft, sein Körper zitterte unter der nassen Kleidung, die Augen zuckten zwischen Lichtkegeln, Menschenmassen und ihren verzerrten Mündern, verklebten Haaren und dem Versuch, der Vorherbestimmung zu entkommen, hin und her. Er mochte die Großstadt und ihre Tempel. Hier waren alle kränklich, krank sowieso. Keiner war für dieses Licht, den Schweiß, den Rauch, die Reibung geschaffen, alle Körper litten, schrieen, wehrten sich, aber irgendetwas, was das Gegenteil von allem sein musste, umklammerte die Momente im Tempel mit eiserner Faust, ließ nicht los bevor der Körper tobte. Und das Loch war gestopft, mit Sinn gefüllt von Mitternacht bis zum Morgengrauen. 

Er selbst war schon immer ein Mann der Mäßigung gewesen. Alles mit Maß und Ziel, wie seine Großmutter zu sagen pflegte. 

Seine Großmutter hatte immer alles unter Kontrolle gehabt, ausgewiesen durch diverse hohe Funktionen im Dorf und später gar als Vorständin des Trachtenvereins. Mäßigung war das Gebot und seine Großmutter hatte sich daran gehalten. 

Der Türsteher verlangte nach seinem Handgelenk, er wollte den Stempel, vom Schwitzen und Händewaschen kaum mehr sichtbar, kontrollieren. Wozu das beim Verlassen des Tempels noch nötig war, verstand er nicht. Der Türsteher schien es nicht zu hinterfragen und somit kontrollierte er Nacht für Nacht verschwitzte, zitternde, blasse, geritzte, faltige Handgelenke und versuchte zwischen all den Kratzen, Ritzern, Falten einen Stempel mit den Insignien des Tempels zu erkennen. Markus hatte den Eindruck, dass der Türsteher sich gar eher auf den Akt des Handgelenkherumdrehens als auf das Kontrollieren der Stempel konzentrierte, ja dass er alle Besucher im Besitz eines Handgelenks, ob mit oder ohne Stempel, rein- oder rauswinkte. Markus hatte einen Stempel. Der pickelige Jugendliche mit der kompliziert aussehenden Frisur vor ihm offenbar nicht. Markus stand in der Reihe und wartete.  

Er war einer der fleißigsten Ministranten gewesen. Besonders die Begräbnisse mochte er. Ihm gefiel die besondere Atmosphäre der Leichenhalle, die geröteten Augen der nahen Angehörigen und die weihrauchgeschwängerte Luft vermischt mit einer süßlichen Note, die er gern als Verwesungsduft imaginierte. Er war nicht nekrophil oder hegte sonst einen perversen Hang zu Leichen, noch fand er die Satanssekten, die in seiner Kindheit gerade bei der Landjugend beliebt waren, interessant. Begräbnisse hatten einen anderen Reiz für ihn. Vielleicht war es dieses Rituelle, Theaterhafte, verbunden mit dem sicherlich echten Schmerz der Trauernden, diese obszöne Mischung aus Schauspiel und Gefühl, die man besonders gut beobachten konnte, wenn man das Kreuz trug. Denn die Menschen blickten vor allem aufs Kreuz, wenn sie mal den Blick vom Sarg abwandten. Es war auffällig, dass sich während der Begräbnisse kaum einer auf etwas anderes als das Kreuz blicken traute. Man musste es sehen, wie den Regenschirm der Fremdenführer, die in letzter Zeit immer öfter durchs Dorf tigerten und kleine Gruppen an Touristen hinter sich herlotsten. 

Der pickelige Jugendliche und er selbst waren durch. Der Türsteher war längst beim übernächsten Handgelenk angelangt. Das Mädchen stieß ihn ungeduldig in die Seite. Es nahm jetzt seinen Arm und zog ihn hinaus. Er hoffte, dass zumindest der Türsteher, vielleicht auch der Typ bei der Jackenausgabe, davon Notiz genommen hatten. Für die Jahreszeit war es unangenehm kühl. Das Mädchen schien ungeduldig, es stapfte von einem Fuß auf den anderen. Er fand es widerlich.

All die Stunden, die er wartend auf seinen Meister verbracht hatte, damals, als er beim Tischler im Dorf lernen sollte. Er war sofort zum Sargzusammenkleben zugeteilt worden, sicherlich kein Zufall. Der Tischler trank viel und arbeitete wenig. Meistens kam er erst nachmittags in die Werkstatt. Das war nicht unangenehm, Markus hatte schon von klein auf gelernt, zu warten. 

Das Mädchen nicht. Sie gingen schneller. Bei der nächsten Hauseinfahrt drückte er sie gegen die Wand, schob ihren Nylonrock hoch, zerrte den Slip bis zu den Knien hinunter und stieß hinein. Er musste sie dabei festhalten, mit einer Hand auf den Mund. Nach drei Stößen war es vorbei. Er würde sich dann immer gern auf den kühlen, diesmal feuchten Asphalt neben sich gleiten lassen, aber da war ja noch das Mädchen. Sie schien betrunken genug um alleine zurecht zu kommen. Mit ihren kleinen Augen durchbohrte sie ihn, aber keineswegs vorwurfsvoll. Sie war ihm dankbar, dass er für ein paar Minuten wenigstens eines der Löcher in ihrer Welt stopfen konnte. 

Es geht nur ums Stopfen von Löchern. Die Suche nach dem viel beschworenen Glück ist letztlich doch nur eine Suche nach dem ultimativen Fick. Das große Loch, das die meisten zu fühlen meinen, wird unverdrossen mit allerlei Krempel gestopft. Manche versuchen es mit Religion, manche mit Moral, manche mit Politik, manche mit Sozialismus, Rassismus, Feminismus, Altruismus, manche mit Kultur und Literatur, manche, erfolgsversprechender, mit Alkohol, Nikotin und Schokolade, und gleichzeitig mit Idealen und Hoffnungen und Vorsätzen und Wünschen und Anliegen und Beschwerden und Träumen und Arbeit und Freizeit und Wohnen und Lieben. Alles in allem erschien ihm da sein Schwanz als die beste Alternative. Er betrachtete ihre fahlen Haare, die mit Schweiß und Haarspray zusammenklebten und nun rhythmisch gegen die kalte Mauer schlugen. Sie hatte sich wieder angezogen und zog an ihrer selbst gedrehten Zigarette. Er lehnte sich an die gegenüberliegende Wand um sie zu betrachten. Alles an ihr schrie Großstadt.

Die Großmutter hatte darauf bestanden, dass er die Lehre beim Dorftischler und nicht in Wien machte. Denn die Großmutter lebte im Dorf, und das Dorf in ihr. 

Seine Hose war noch immer unten, widerwillig zog er sie hoch und knöpfte sie zu. Das Mädchen schien mittlerweile eingeschlafen. Entgegen seines Naturells zog er einen Geldschein aus der Hosentasche, steckte ihn ihr zwischen die Finger und ging eilig weiter. Es war kalt. Weiter vorne konnte sie ein Taxi bekommen.

Es waren jetzt nur noch wenige Meter bis zum Stephansplatz. Eine ältere Frau stöckelte vor ihm über den Asphalt und stieß dabei mit den Absätzen immer wieder in die Ritzen, die sie hie und da festhielten. Der Hund der Frau nahm wenig Notiz von der Gegenwart seiner Besitzerin. Es fiel unangenehm auf, wie sehr ihr Leben von Löchern, unter anderem im Asphalt, bestimmt war. Nun bückte sie sich gerade und versuchte wieder, ihren Absatz aus der Bodenplatte zu entfernen. Der Hund blickte teilnahmslos in Leere. 

Er hob ihn hoch und begann zu laufen. Die Frau bemerkte zuerst gar nichts, so versunken war sie in das Herauspuhlen ihrer Absätze. Erst als er schon in die Seitengasse einbog und sein Zwerchfell zu schmerzen begann, schrie sie. Er verlangsamte sein Laufen zu einem zügigen Gehen und drückte den Hund an seine Nase. Das Fell roch nach Regen, aber auch unangenehm nach Parfum. Es war ganz weich und frisch gekämmt. Markus Finger fuhren gierig durch den dünnen Flaum auf der Bauchseite. Der Hund blickte weiter teilnahmslos ins Leere, wie das Mädchen vorhin. Beide hatten erkannt, dass das Loch am effektivsten mit Gleichgültigkeit zu stopfen ist. Erhoffe dir nichts, erwarte das Schlimmste, sagte die Großmutter immer. 

Vor seiner Einschulung hatte sie es ihm wie ein Mantra vorgetragen, Nacht für Nacht. Während andere Großeltern mit ihren Enkeln die ersten Buchstaben übten oder den Schulweg abmaßen, bereitete seine Großmutter ihn auf das Schlimmste vor.

Der Hund gab einen Kläffer von sich, der sich wie ein unterdrücktes Gähnen anhörte. Er strich ihm über das elektrisierende Fell. Mittlerweile fühlte er seinen rechten Arm, der den Hund von unten stützte, nicht mehr. Es war ein schönes Gefühl. Er fühlte etwas dadurch, dass er es nicht mehr fühlte, viel stärker. Sein rechter Arm war jetzt nicht mehr da, wodurch er bemerkte, dass er überhaupt einmal da gewesen war. 

Kurz nach Beginn seiner Lehre hatte sich im Sägeraum ein Geselle, der Franzi, seinen rechten Arm bis zum Ellbogen abgesägt. Unbeabsichtigt, aber es gab eine hohe Versicherungssumme. Das Dorf redete. Seine Großmutter empörte sich über den Franzi, der vor gar nichts zurückschreckte, um zu Geld zu kommen. Man versuchte nicht, den Arm wieder anzunähen, Franzi bekam eine Prothese. Ob er jetzt zwei Körper hatte? Der Arm gehörte ja zu ihm, er musste wohl noch etwas fühlen. Weil er eben nichts mehr fühlte. Vielleicht fühlte der Arm nun etwas Eigenes, ohne Franzi.

Der Hund strampelte ungeduldig. Markus presste seine Arme fester aneinander, sodass er noch stärker an seine Brust gedrückt wurde. Er winselte, es war aber eher ein Winseln aus Langeweile, was sollte ein Hund auch sonst tun. Er ließ ihn auf den Asphalt knallen. Er war keine Katze. Das Winseln versiegte kurz, um dann lauter zu werden als zuvor. Markus ging in die Knie und ließ sein Gesicht vom Hundeschwanz bewedeln. Er hatte einen sehr breiten, haarigen Schwanz, am Ende ein wenig verfilzt. An den Lippen kitzelte es, wie ein Bart. Er krallte seine Fingernägel in die Seiten des Hundes, der aufjaulte und nach den Händen schnappte. Markus versetzte ihm einen Schlag gegen die Schnauze. Jetzt brummte er nur noch. Sind also Tiere auch auf der Suche nach Sachen, die ihr Loch stopfen? 

Er hatte sich beim Tischler oft gewünscht ein Tier zu sein, dann würden die Fragen in seinem Kopf aufhören. Man schläft, frisst, geht Gassi und macht das, was der Meister sagt. Das wird schon, mein Großer.

Das häufigste Utensil zum Löcherstopfen: Es wird schon. Auf was hofft man da, wenn man denkt, dass es wird? Es wird schon besser, es wird schon leichter, es wird schon schöner, es wird schon einfacher, es wird schon groß, dick, grün, wichtig, mehr werden. Sonst wird ja nichts, dann ist schon alles, und wenn alles ist, ist’s aus. 

Er holte sein Schweizer Taschenmesser aus der inneren Jackentasche und klappte es auf. Die Spitze reflektierte den Weg hinter ihm. Er näherte sich dem Hinterteil des Hundes, der nun eng am Asphalt kauerte. Das Messer spielte mit der Schwanzspitze und trennte dabei ein paar Härchen ab. Er ließ die Spitze an der Länge des Schwanzes hinab gleiten bis zum Loch des Hundes. Zu Unrecht denken viele, Leere wäre gleichzusetzen mit Schmerz. Oft kann gerade der Schmerz viele Löcher füllen.

Beim Begräbnis hatte er immer die vorbereiteten Reden, die in der Sakristei lagen, gelesen. Dann fühlte er auch von dem Schmerz, den die Trauernden präsentierten, vorführten und auf den durchgesessenen Bänken imprägnierten. Er konnte dann eintauchen in das Gefühl, nicht ganz bis zum Scheitel, aber zumindest bis zu den Schultern steckte er dann drinnen im glasklaren, aber doch wärmenden Schmerz. Er würde sich immer für den Schmerz entscheiden. Der Hund würde sich dagegen entscheiden. Für Tiere war nicht das Stopfen von Löchern vorrangig. Tiere, die sich frei fühlten, waren ja nicht abgestumpft. 

Der Hund war eigentlich Besitz, aber tief drinnen war auch er vom Aufklärungsgedanken besessen. Der sagte ihm, dass er nicht Besitz wäre, alle Tiere sind frei und gleich an Rechten. Vielleicht war es das, was das Loch des Hundes stopfte. Es war natürlich nicht ohne Fehler, wie alle Stopfdings. Man wird ja vom Haus, Kind, Partner besessen, also vom Besitz besessen. Nicht anders als der Hund. 

Markus rammte ihm das Messer seitlich in den Bauch, er war sofort vom Leben gerettet. Das Blut rann stark und war ungewöhnlich hell. Er drehte das Messer gegen den Uhrzeigersinn und stocherte im Inneren der Wunde. Es gab ein schlürfendes, saugendes Geräusch. Es erregte ihn, er musste einige Male hineinstoßen. Das Messer glitt mühelos durch die Schichten und holte jedes Mal ein wenig mehr Inneres hervor.

Wie sie da vorher an der Wand gelehnt hatte, hätte man auch nicht gedacht, dass sie lebte. Aber auch nicht richtig tot war, eher in einem Zustand zwischen beidem und doch mehr als beides zusammen. 
Das Messer ließ er jetzt ganz locker über den Rücken des Hundes fahren, er musste kaum Druck ausüben, um das Blut hervorzulocken. Wenn er es doch tat, spürte er die Knochen des Rückgrats, das verursachte ein komisches Gefühl, fast so wie wenn er mit den Nägeln an einer Tafel kratzte. Es machte nicht das geringste Geräusch, nur ein Gefühl. Er trennte den Kopf zügig ab. Vom unteren Hals aus fuhr er dann am Bauch entlang, diesmal viel tiefer, um das Fell ordentlich abtrennen zu können. Er kannte sich aus mit Tieren.

In der letzten Sitzung vor Pfingsten, noch vor der Geflügelseuche, wurde einstimmig der Hahn als Wappentier gewählt. Es gab eine längere Debatte zwischen Hahn und Henne, aber die Großmutter setzte sich durch. Man will im Trachtenverein schließlich keine Eier legen, sondern auffallen. Die Damen stimmten zu.

Er war jetzt beim Penis des Hundes angelangt, den er genauso wie den Kopf abtrennte. Es blutete nicht so stark. Er schlitzte weiter und stieß dann das Messer mehrmals hintereinander in den Anus, in kürzer werdenden Abständen. Das Fell musste jetzt abgeschabt und vorsichtig lang gezogen werden, es war ein schwieriger, körperlich anstrengender Prozess. Er stöhnte unter der ungewohnten Aufgabe und keuchte leise in den nassgrauen Asphalt, als er sich am Boden abstützte. Der Kadaver blutete jetzt aus drei Öffnungen. 

Der Kopf war immer die größte Öffnung, aber auch die, die man am ehesten stopfen konnte. Immerhin ist Betrug vor allem eine intellektuelle Anstrengung. In den Kopf kommen Dinge wie Fragen und Antworten, Gedanken, Sorgen, Gewissen, Versuche und Suchen, aber, das wissen viele nicht, auch Gefühle. Er wusste es, er dachte immer Liebe, oder Hass, oder Eifersucht, oder Hunger, Freude, Scham. Das Arschloch denkt aber nicht wie der Kopf, das war schwieriger. 

Das Arschloch war das schwarze Loch unter den Löchern, es saugt sich selbst auf und alles um sich herum. Es kann keine Gefühle denken wie der Kopf, also muss man es anstrengen, um zu spüren. Es stellt sich die Frage, ob das Loch spürt oder ob man selber das Loch spürt, oder ob man das spürt, was das Loch spürt. Wenn das Loch spürt, wer spürt dann? Schmerz war ganz wichtig beim Fühlen und beim Stopfen. Dann spürt man nämlich die Leere nicht. Das wurde ebenfalls von vielen unterschlagen. Dass man die Leere spürt, indem die Leere da ist, und deshalb nicht da ist. Man spürt andererseits aber auch, wenn die Leere nicht da ist, was besonders der Fall ist, wenn Schmerz da ist. Er war auf dem richtigen Weg. Schließlich noch das künstlich geschaffene Loch in der Mitte. 

Es schien viel einfacher, künstliche Köcher zu schaffen als natürliche zu stopfen. Um Löcher zu schaffen bedurfte es kaum einer Anstrengung, es geschah nebenbei, so wie man fernsehschaute oder zu Mittag aß. Tatsächlich wurden gerade beim Fernsehschauen und Mittagessen viele Löcher geschaffen. Die Automatik war also nicht das Problem, eher das sich Bewusstwerden. Er selbst tat es nur selten bewusst. Das Schaffen von Löchern schien um ein Vielfaches leichter als das Stopfen von Löchern. Die Leichtigkeit des Produzierens ging mit der Schwierigkeit des Löschens einher. Diese grundsätzliche Logik zeigte sich schon beim Zeugen und Töten eines Menschen. Ersteres wurde selten bewusst, und wenn dann ohne besondere psychische Anstrengung unternommen, während einem letzteres schon mehr abverlangte. Ihm war das Abtrennen nicht schwer gefallen, das Zustoßen und Hineinrammen davor jedoch sehr wohl. Man wächst mit jeder Aufgabe, sagte die Großmutter immer.

Er breitete das fertige Fell vor sich aus. Wie immer sah es viel kleiner und weniger imposant aus, als man gedacht hätte. Er strich es glatt, beschmierte es dabei aber mit noch mehr Blut. Er schmiss es einige Male gegen die Mauer, so wie die Leute im Film ihre Teppiche ausklopfen, und spritzte sich mit winzigen Blutstropfen voll. Er leckte seine Lippen ab. Noch mal ausgebreitet sah es nun schon um einiges gleichmäßiger aus. Er rollte es quer zusammen und band es um seinen rechten Fuß, wie eine Fessel ohne Partner. Den Körper ließ er liegen. Im Osten graute nun schon der Morgen, er war länger im Tempel geblieben, als er vorgehabt hatte. Wohl weil die Leere zu sehr vom Loch Besitz ergriffen hatte. Es gab im Übrigen eine häufige Verwechslung der beiden. 

Loch war nicht Leere. Das Loch an sich empfand er eher als neutrales Element, als Körperteil, der eben da war, aber, so wie alle anderen in dieser Reihe, so wie Arme, Beine, Bauch, nicht sonders wahrgenommen wurde. Dennoch, Löcher verlangten nach Schmerz, um wahrgenommen zu werden. So wie man Körperteile wahrnimmt, wenn sie plötzlich nicht mehr da sind. Franzi nahm jetzt wohl seinen Arm wahr. Gleichzeitig nahm er deshalb kein Loch wahr. Der Arm verlangte die gesamte Wahrnehmung und das gesamte Gefühl und den gesamten Schmerz, den Franzi aufbringen konnte. Damit waren alle Löcher gefüllt. Und es waren nicht nur Franzis, sondern alle Löcher in der Umgebung ganz gefüllt. Sogar seine eigenen damals.

Als er die Sägemaschine vorfand, mit all dem Blut ringsherum, war da viel unangestrengtes Gefühl, Ekel, und Schmerz, Mitleid, Faszination, Neugier. Es war nicht beschwerlich, es füllte aus. Er musste an den Hund denken, der jetzt auch keine Löcher mehr hatte, zumindest keine unausgefüllten. 

Das Fell am Knöchel tropfte noch. Es war so still, dass er es auf dem Asphalt hörte. Die Frau hatte dazu ihre Absätze gebraucht, er nicht. Er war vorhin auch in einer Bodenritze hängen geblieben war, das Fell hatte sich festgehakt. Jetzt versuchte er, nicht mehr auf die Ritzen zu steigen. Das war nicht auffällig, viele Menschen stiegen trotz niedriger Absätze und ohne Fesseln auf keine Ritzen, zwangsweise. Löcher möglichst vermeiden. Neurotisch. Er konnte es gut nachvollziehen: Man versucht, die innerliche Anstrengung, Löchern aus dem Weg zu gehen, nach außen zu übertragen. 

Er hatte es auf das Präparieren der Sägemaschine übertragen. Wochen vorher fing er damit an. Eigentlich musste er nur den Knopf fürs Ausstellen verklemmen, indem er einen kleinen, scharfkantigen Stein darunter legte. Es war aber schwierig gewesen. Man musste den Stein nämlich so platzieren, dass die Kraft genau von oben kam, wenn man auf den Knopf drückte, und nicht von rechts oder links, weil dann würde der Stein wegschleudert werden. Ein ungeheurer Aufwand.  

Die Fessel am linken Fuß zog ihn hinunter, wahrscheinlich war das Fell durchtränkt und deshalb zusätzlich schwer. Gerade fuhr die erste Straßenbahn. Durchnässt lehnte er sich an eine Hauswand und starrte in die heller werdende Nacht. 

Er hatte in der Nacht noch alles nachgeprüft. Am nächsten Tag hatte er frei. Er ging dennoch zur Arbeit, es fiel nicht auf. Bereits am Weg kam ihm die Tischlerin entgegen und rief nach dem Arzt. Er schlich sich von hinten in die Werkstatt um es sehen.

Er zog wieder das Taschenmesser aus der Hosentasche und wischte es sorgfältig am Oberschenkel ab. Mit Spucke polierte er es ein wenig und ließ dann die Klinge auf dem Handgelenk zu stehen kommen. Der Stempel war nur mehr ganz schwach zu sehen, er musste viel geschwitzt haben in den letzten Stunden.

Es war also Franzi gewesen, der die Maschine angeworfen hatte. Er sah komisch aus inmitten des Blutes. Im Nachhinein dachte Markus, dass er wohl ohnmächtig war. Er konnte das damals nicht genau ausnehmen, weil er sich wieder in die Stube zurück machte.

Er zielte auf die Beuge und ließ die Hand genau auf einem Fensterbrett zu liegen kommen, sodass sich der restliche Arm in der Luft befand und das Gelenk genau am Rand auflag. Langsam zielte er einmal, zweimal auf das Gelenk. 

Der Tischler bekam Probleme, denn ihm gehörte die Maschine. Genauso gab es Untersuchungen zu Franzi. Er war nämlich, im Gegensatz zu den anderen, versichert. Es sei nur natürlich, dass es da zu Spekulationen kommen musste, sagte die Großmutter. Keiner wusste, was Franzi sagte. Er war zuerst im AKH, dann musste er mit der Prothese auf  Kur, und als er zurückkehrte, war Markus in Wien. 

Mit voller Wucht und der Kraft seines restlichen Körpers ließ er das Messer auf das Handgelenk prallen. Die Schwere, die aus ihm kam, schlug ihn zurück. 

Der Tischler verstand es als Strafe Gottes. Am Karfreitag wurden die Gesellen und Markus in die Andacht geschickt. Er trug das Kreuz beim Kreuzweg. Danach waren sie einzeln bei der Beichte, und anschließend kam der Pfarrer in die Tischlerei und redetet mit dem Tischler und der Tischlerin und den Gesellen. Und mit ihm. 

Das Gelenk war wie erwartet zuerst eingeknackst, danach hatte die scharfe Klinge den Großteil des Fleisches und der Knöchelchen durchtrennt. Es sah possierlich aus, wie die Hand nur mehr an ein paar Muskelfäden hing. Er durchtrennte sie ganz, er konnte sie jetzt ohne Kraftaufwand durchschneiden. Die Enden fransten dank der Schärfe der Klinge nicht aus. Er presste fest gegen den Armstumpf um den Blutstrom zu stillen. 

Der Tischler ging nach dem Unfall bald vollständig dazu über, sein Loch mit der Kirche zu stopfen. Er wurde Messdiener und zählte den Klingelbeutel aus. Es gab mehr Aufträge für Hausaltäre, und Särge standen ohnehin immer im Kurs. 

Abgesehen von der beginnenden Schwärze in seinem Kopf war nun gar keine Leere mehr zu spüren. Er war vom Schmerz ausgefüllt, bald würde er davon und vom Blutverlust übermannt werden. Das Loch am Ende des Arms nahm sein ganzes Wesen ein. Es stopfte das Loch im Kopf, der ohnehin ausgeschaltet war, die Nerven hatten das System übernommen. Es gab jetzt keine Hoffnung, keine Trauer, kein Glück, keine Religion, kein Leiden, kein Leben, keine Gerechtigkeit, keine Himmelfahrt mehr. 

Der Stumpf würde ihn für immer, sollte er leben, beschäftigen. Es gäbe Krankhaus, Operationen, Prothesen, Rehabilitation, Versehrtenrente, Behindertenparkplätze, Treffen mit Betroffenen und Ärztezeitschriften. Es sah sehr nach Ausfüllung aus. Ein ausgefülltes Leben. 

Wer war jetzt ausgefüllter? Das Mädchen, der Hund oder er? Hatte das Mädchen dank heute, dank ihm oder dank des Tempels oder dank des Taxifahrers oder dank der kalten Wohnung die Liebe, den Glauben, die Seele, die Zukunft, die Geschichten besiegt? Der Hund sicher. Nicht. Weil er mit dem Gedanken ans Leben, bis zuletzt, gestorben war. 

Er blickte aufs Loch am Ende des Arms. Es würde alles bestimmen. Er konnte Glück haben, der Schmerz konnte nie aufhören. Schon spürte er das Geringerwerden, das Auslaufen der letzten Gedanken an Leere und Suche und Löcher. Es drehte sich jetzt alles um den Schmerz, er nahm immer mehr von ihm Besitz. Er dachte jetzt nur mehr daran, wie er dem Schmerz entkommen konnte. Schmerz, Schmerz, Schmerz. Grelles Licht. Schmerz, Schmerz, Schmerz. Er musste kurz aufschreien und seine intakte Hand gegen die Mauer drücken. Schritte hinter ihm nahm er schon nicht mehr wahr. Er freute sich noch über das Schwinden der Wahrnehmung, bevor er die Schwärze vor seinen Augen empfing. 

Der Tischler hatte damals behauptet, der Arm wäre verschwunden. Man ließ ihn nämlich einfach am Unfallort liegen, der Notarzt fand ein Wiederannähen zwecklos. Die Polizei sollte alles fotografieren, aber sie konnten erst am Abend kommen, da im Nachbardorf ein Unfall passiert war, mit zwei Opfern, also doppelt soviel. Man konnte vor vier nicht mit der Polizei rechnen, bis dahin sollte alles unberührt bleiben. Der Tischler sollte absperren und noch nicht sauber machen. Er musste gegen Mittag dann doch wieder in die Kammer gegangen sein, denn um diese Zeit traf ein Notruf bei der Polizei ein, der Arm sei weg. Es schien aber auch der Tischler selbst kurzzeitig weggetreten zu sein, denn als die Polizei schließlich eintraf, lag der Arm an der Stelle, an der ihn der Tischler zuletzt gesehen hatte. Das Dorf redete wieder, vor allem, da der damals diensthabende Polizist stellvertretender Vorsitzender des Trachtenvereins war. Die Großmutter kritisierte den bedenklich hohen Alkoholkonsum des Tischlers, bevorzugte diesen aber noch vor den laschen Sitten des Spenglers, der mehrere uneheliche Kinder hatte. Also blieb Markus beim Tischler in der Lehre. 

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