Friday, June 19, 2015

Suchmaschinen

Nun kann man also davon ausgehen, dass es im Leben ganz bestimmt nicht so ist wie in den Pilcher und Roberts-Filmen, wo am Ende eine einen heiratet, meist im englischen Garten oder wahlweise der englischen, also anglikanischen Kirche, umgeben von englischen Hügeln im englischen Cornwall in England. Und die Gäste, also natürlich eigentlich die Schauspieler, machen wir uns nichts vor, tragen, trotz ihrer deutschen Herkunft und der deutsch-österreichischen Koproduktion und des deutschen Regisseur und des österreichischen Hauptdarsteller und der deutschen Hauptdarstellerin und nur eines einzigen englischen Nebendarstellers, den Butler spielend meist, oder den Gärtner, zwecks der Erhaltung der Englishness des Gartens und der Spannung – im Zweifelsfall war’s der Gärtner – englische Kostüme. Also nicht direkt Kostüme aus England, ganz bestimmt nicht, man kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit voraussagen, ohne die Filmcrew näher zu kennen, dass die Kostümbildnerin oder der Kostümbildner dieselbe Nationalität besitzt wie die Hauptdarstellerin oder der Hauptdarsteller, schon der Einfachheit und der professionellen Beziehungen des Produktionsleiters wegen. Nicht aus England, also, die Kostüme, aber englisch aussehend. Vor allem die Hüte, das ist das markanteste Kennzeichen, stechen einem sofort ins Auge. Obwohl Engländer, und wahrscheinlich auch nicht alle, nein, ganz sicher nicht, man denke nur an die Anhängerschaft von Manchester United, obwohl also nur manche Engländer nur gelegentlich oder auch häufig, je nach Klasse und Gesinnung und Stimmung und Familienstammbaum, Hüte tragen, so tun sie dies nicht ausschließlich bei Hochzeiten, sondern vielen anderen, ähnlich festlichen Anlässen, man denke nur an Begräbnisse, Taufen, runde Geburtstage etc. Dennoch verbindet man, und daran sind eben die deutsch-österreichischen Koproduktionen im Hauptabendprogramm schuld, englische Hüte, also eigentlich Menschen, die dank Hüten englisch aussehen, mit Hochzeiten. Englischen, um genau zu sein. 

Katinka nickte überzeugt. Ja, das schien einleuchtend. Der Mann vor ihr, der sie gerade an seinem schier unermesslichen Wissen über deutsch-österreichische Koproduktionen und englische Hüte teilhaben hatte lassen, zog verklärt an seiner Zigarette. Um ebenso genau zu sein wie er selbst, gilt es ihn vielleicht nicht nur als Mann vor Katinka, sondern als in der Tat ihren langjährigen Lebensgefährten vorzustellen. Der Name tut in diesem Augenblick nichts zur Sache. Viel bedeutender ist der Umstand, dass Katinka vor kurzem ihrem langjährigen Lebensgefährten vom bereits zweiwöchigen Ausbleiben ihrer Periode unterrichtet, und man sich deshalb die vergangenen eineinhalb Stunden, bis knapp vor der Diskussion der englischen Hüte, im Konjunktiv unterhalten hatte. Um noch genauer zu sein, war es vor allem ihr Lebensgefährte gewesen, der sie beide durch interessante Hypothesenbildung unterhalten hatte. Wäre sie schwanger, würde man. Würde man, sollte man zudem. Wie sollte man, wenn man würde? Der Exkurs über deutsch-österreichische Koproduktionen und englische Hüte war einem Einwurf Katinkas gefolgt, die zu bedenken gab, dass, sollte man der finanziellen Absicherung des Kindes wegen zu heiraten gedenken, die nun herannahende kalte Jahreszeit dafür schlecht geeignet wäre. Schon allein der dafür angemessenen Kleidung wegen. Bedenken dieser Art dürfe man aber, so ihr langjähriger Lebensgefährte, keinesfalls stattgeben. Immerhin galt es, sich auf eine gemeinsame Lebensform zu einigen. Denn es sollte nicht so sein, erklärte er ihr, wie im letzten großen Hit des ehemaligen … Sängers Ozzy Osborne. 

Dieser hat, nach Jahren der Bühnen- und Studioabstinenz, einen letzten Song veröffentlicht, sicherlich bedingt durch seine äußerst erfolgreiche Reality-Show, die, das kann ruhig gesagt werden, das Urgestein aller Reality-Formate im heutigen TV-Einheitsbrei darstellt. Natürlich war das nach Big Brother, das aber, entgegen der landläufigen Meinung, keine amerikanische, sondern eine holländische Erfindung ist, obwohl es jetzt, und das ist ja wohl eine seltene Ironie des Schicksals, wo ebenjene TV-Landschaft doch gerade erläutert wurde, eine englische Spezialität. Das englische Big Brother erzielte nicht nur die größte Aufmerksamkeit, sondern gilt unter Kennern, also TV-Junkies und selbsternannten Spezialisten, als die gelungenste aller nationalen Shows. Ehemalige Insassen betätigen sich heute als Moderatoren, Sänger, Eventplaner und Charity-Organisatoren. Erfolg also nicht nur für die Erfinder, die Produzenten und den TV-Kanal, sondern auch für die Teilnehmer. Fürs Publikum, nun, hier lässt es sich streiten, und in der Tat tun dies viele Menschen, war es nur unter Umständen ein Erfolg. Den Alltag unbekannter Menschen zu observieren, das mag einen ganz eigenen, pervers-paradoxen Reiz haben, doch man sollte nicht außer Acht lassen, dass man in der Zeit, in der man Big Brother oder Das Dschungelcamp oder Bauer sucht Frau guckt, ganze Theatervorstellungen, Buchneuerscheinungen und Lesungen versäumt. Unverzeihlich ist das, um genau zu sein.

Katinka nickte, diesmal kaum merkbar. Sie war nun deutlich weniger überzeugt als zuvor. Man könnte, und daran dachte sie viel lieber als an deutsch-österreichische Koproduktionen, englische Hüte, alternde amerikanische Rockstars und holländische TV-Formate, das Kind, falls es denn eines geben würde, nach ihrem Großvater benennen. Falls es ein Bub war. Falls es ein Mädchen war, sollte es Nathalie heißen, wie bei Jacques Brel. Als sie ihren langjährigen Lebensgefährten darauf hinwies, dass sie lieber französische Chansons als amerikanische Rockmusik hörte, tätschelte er liebevoll ihre Wangen. Das wüsste er natürlich, nur ging es ja nun nicht um musikalische Vorlieben, sondern um ein ganz spezifisches Exempel, dass er durch das Zitieren des Ozzy Osborne-Songs zu veranschaulichen gedachte. 

Denn dieser Song handelt von einem dreamer, einem Träumer also. Das ist ein tatsächlich klug gewählter Titel, man denke nur an die Obsession der US-Amerikaner mit Träumen. I have a dream, Dreamworks Pictures, sweet dreams etc. Und hat nicht Kennedy auch einmal eine bekannte Rede gehalten, die von Träumen, wenn auch sicherlich nicht derartigen wie Ozzys, handelte, dazu wäre er selbst als Demokrat nicht in der Lage gewesen, bei dem fürchterlich aufgeblasenen Ego, das von jeher den amerikanischen Präsidenten, wie etwa Reagan, gar nicht reden von ihm, innewohnt. Solcherart Dinge werden ja oft von den weniger wichtigen, wie etwa Kennedys unerklärlicherweise hoch gelobte „Ich bin ein Berliner“-Rede vor dem Brandenburger Tor, das, unter uns gesagt, in echt, wenn man also leibhaftig davor steht, keinesfalls so beeindruckend ist wie im Film, besonders in den deutschen Katastrophenfilmen, die in letzter Zeit wie Schwammerl aus dem Boden schießen, verdrängt. Der Traum ist also, so kann man mit Fug und Recht behaupten, ein gelungenes Motiv für Reden, Filme und Lieder aller Art, auch, unter Umständen, für Reality-Soaps, aber denkbar schlecht für das tatsächliche Leben. Es kann fatal enden, eine Hochzeit vorzuziehen oder zu verschieben, nur weil sie nicht ins eigene Lebenstraumschema passt. Da fallen einem unweigerlich die ganzen Talkshows ein, in denen einem Nachmittag für Nachmittag, und man fragt sich, wer denn da Zeit hat bzw. wer diese Zeit, falls er sie hat, mit Vaterschaftstests und Lebensbeichten wildfremder Menschen (und das zum Glück!) verbringen möchte, durch und durch verpfuschte Leben vor Augen geführt werden. Und zum Abschluss legen die Gäste gerne ihre Lebensträume dar, denen nachzuhängen überflüssig und deren Erfüllung in dem meisten Fällen äußerst gefährlich scheint. Lebenstraumgefährlich, sozusagen.

Katinka nickte und betrachtete schweigend das fahle Licht, dass vom Monitor des Laptops auf den Wohnzimmertisch fiel. Wenn es ein Mädchen wäre und man sie Nathalie nannte, könnte sie ihre alten Kindersachen, das Spielzeug und die Kleidung, die noch irgendwo im Keller ihres Elternhauses lagerten, wieder verwenden. Sie dachte an ihre Lieblingspuppe mit den pechschwarzen Haaren und den bernsteinfarbenen Augen, die auch Nathalie geheißen hatte. Ihre lebendige Nathalie würde wahrscheinlich keine pechschwarzen Haare haben, weil sie brünett und ihr Lebensgefährte blond waren. Aber die Augen wären womöglich braun. Und vielleicht hätte sie Sommersprossen, wie Katinka sie als Kind auf Nase und Wangen hatte. Nathalie würde eine blasse Haut haben, und lange Wimpern, an denen die Regentropen abperlten. Und sie wäre groß und schlank, aber sehnig, mit stark ausgeprägten Hüftknochen und einer kräftigen Muskulatur. Katinka blinzelte heftig, um ihre Augen aus der Starre zu befreien, und wies ihren Lebensgefährten darauf hin, dass sein Laptop seit Stunden eingeschaltet war und, da er offenbar nicht gebraucht wurde, unnötigerweise Strom verbrauchte. Ihr Lebensgefährte entgegnete, dass man, wenn der Laptop schon eingeschaltet war, doch gleich nach geeigneten Beratungsstellen für ihre derzeitige Situation suchen könnte. Er werde sogleich die Suchmaschine seines Vertrauens befragen. 

Es ist ja von äußerster Wichtigkeit, dass man die richtigen Suchbegriffe eingibt. Man darf nicht zu generell, andererseits aber auch nicht zu spezifisch suchen. Ein Mittelding muss gefunden werden, die goldene Mitte, der Weg dazwischen, das ist in den meisten Lebenslagen so. Zudem muss man sich dessen, was man denn nun sucht, erst einmal bewusst werden. Gibt man nämlich, als grobe Umschreibung seines Zielobjekts, „Schwangerschaftsberatung“ ein, so erhält man Informationen zu Schwangerschaftsgymnastik, Mutter-Kind-Pass, Impfungen und Untersuchungen, Entspannungsübungen, Hebammennotdienst usw. Wenn man aber überhaupt erst, so wie wir, und dessen sind wir uns ja einig, denn was wir hier haben ist etwas gänzlich anderes als eine deutsch-österreichische Koproduktion, ein holländisches TV-Format oder ein amerikanischer Rocksong, wissen möchte, ob man überhaupt Schwangerschaftsberatung in Anspruch nehmen werden will, also überhaupt schwanger sein möchte, dann tippt man am besten die konkreten Optionen ein, die in Frage kommen. Das wären „Abtreibung“, aber auch „Adoption“, und natürlich „Familiengründung“. Und hier, na wer sagt’s denn, dieses Internetzeitalter ist doch ein wahrer Segen, alles wird von der Wohnzimmercouch aus erledigt, hier haben wir schon die offizielle Website des Finanzamts, die erklären einem, inwiefern sich eine Eheschließung des Kindes oder der Kinder wegen lohnt. Gleich der zweite Treffer, sehr gute Auswahl. Man muss halt immer wissen, wonach man sucht.  
Katinka nickte energisch, erhob sich und ging. 

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